Das Streben nach Macht bedeutet Eingreifen in das Leben anderer Menschen oder Staaten und Aberkennen ihres eigenständigen Seins. Das Motiv kann sein, sich ihre Ressourcen anzueignen. Ein weiteres Motiv ist mehr psychologischer Natur: Indem zu anderen Menschen oder Staaten die Haltung der Macht eingenommen wird, relativiert ihr Sein nicht mehr die eigene Existenz, denn durch das Verhältnis der Macht, entfällt die Herausforderung, die ihr Wahrnehmen als eigenständiges Sein darstellen würde.
Der nach Macht Strebende errichtet eine Abgrenzung gegen das Sein, indem er eine Einheit mit einem eingeschränkten Sein macht, das heisst, mit einem Sein, das Produkt seines Willens ist oder mit einem Sein dessen Ursache er ist. Andererseits hebt er eine Grenze auf: die Grenze zwischen sich als eigenständiger Existenz und dem anderen als eigenständiger Existenz – das kann dazu führen, dass er seine eigene Existenz mit der des anderen verwechselt.
Wie könnte man das nennen, wenn ein Mensch oder eine Gruppierung zum anderen Wesen eine Haltung einnehmen, durch die sie nur dasjenige Sein zulassen, das sie willentlich eingegrenzt haben, das heisst, von dem sie sich quasi als die Ursache fühlen oder es kontrollieren können? Absolutismus, diktatorischen Subjektivismus, diktatorischen Fundamentalismus, Verweigerung des Seins, Degeneration, toter Geist und schlechter Charakter in unauffälliger Erscheinung; sein wollen, ohne zu sein (= Perversion)? Phantommenschen, die andere Menschen nur als Phantommenschen zulassen: Die Kehrseite davon, ihre geistig eingegrenzte Existenz als Massstab zu etablieren, sind missbrauchte menschliche Existenzen.
Wem ist geistige Eigenständigkeit ein Dorn im Auge?
Zum Beispiel denjenigen, die sich einen Vorteil davon versprechen, sich von der herrschenden Gruppierung instrumentalisieren und betrügen zu lassen. Oder jenen, die die Fäden der Marionetten in den Händen halten und befürchten, die Macht könnte ihnen durch eigenständig denkende Menschen entgleiten.
Geistige Eigenständigkeit strebt nach Widerspruchsfreiheit und Übereinstimmung von Idee und Gegenstand (Wahrheit), nach Kommunikation und geistigem Austausch, sie will alle möglichen Standpunkte und dazugehörigen Informationsgrundlagen kennenlernen und sich dann selber ein Bild machen. Geistige Eigenständigkeit ist der Feind von Manipulation, Steuerung, Gängelung.
Kann man selber eine eigenständige Existenz sein, wenn man das Sein des anderen nicht als eigenständiges Sein anerkennt?
Kann man geistig ausgeweitetes Sein haben, wenn man das Sein des anderen einschränkt oder herabwürdigt? Kann jemand geistige Eigenständigkeit haben, wenn er seine Existenz geistig einschränkt?
Wie steht Macht zu Geist?
Besteht Geist darin, Macht über etwas zu haben und je umfassender das ist, worüber man Macht hat, desto grösser ist der eigene Geist? Kann dadurch, Macht über etwas zu haben, die eigene Existenz erfasst werden oder zeigt sich in der Quasi-Gleichsetzung von Macht und Geist nur ein skrupelloser Hang zur Reduktion der eigenen geistigen Existenz und somit der anderen Menschen und des Kosmos?
Die Verlockung, keine eigenständige Existenz zu sein
Was könnten die Motive sein, Mittel und Wege zu suchen, sich über andere Menschen, den Kosmos und den eigenen Verstand zu stellen, das heisst, sie nicht als eigenständiges Sein anzuerkennen? Bedeutet es einen Vorteil, das Verhältnis zu anderen Menschen, dem Kosmos und dem eigenen Verstand so zu bestimmen, dass ihr Sein nicht mehr konstituierend ist für das eigene Sein und somit das eigene Selbstverständnis? Jedenfalls bedeutet es eine Abgrenzung gegen den Geist des anderen – einen eingeschränkten oder unterbundenen Austausch, eine Verhinderung von Kommunikation und Identifikation, das Verhindern des Machens einer Wesenseinheit mit den anderen Menschen und dem Kosmos.
Durch Widersprüche ist es möglich, sich über die anderen Menschen, den Kosmos und den eigenen Verstand zu stellen. Natürlich müssen diese Widersprüche gut versteckt sein, sonst steht man als Irrer da.
Wie fühlt man sich in einer eingegrenzten Realität, in einem willkürlich eingeschränkten Geist? Womit beschäftigt man sich, denn der Genuss und die Würdigung des ungeteilten, in sich ruhenden, unendlichen Seins, das Fühlen einer Einheit mit den anderen Menschen, ist mit dieser Haltung nicht möglich!