Angst sei ein Gefühl, das Kinder nie kennen lernen dürften, es schade ihnen – ist das ein Grundsatz der Pädagogik? Zur Steigerung des Empathie-Vermögens dürfte er allerdings nicht beitragen!
Ich nehme an, die Angst, etwas zu verlieren oder nicht zu bekommen, kennen alle Menschen – aber kennen auch alle Menschen das Gefühl, der Wirkkraft eines anderen unterworfen zu sein? Zum Beispiel wie es ein Kind gegenüber einem strengen Nikolaus und Knecht Ruprecht gegenüber kennen könnte? Ich vermute, jemand, der dieses Gefühl nicht kennt, kennt auch keinen Respekt, er ist sich der Relativität seiner Existenz nicht bewusst und damit auch nicht ihrer Tiefe – er hält sich quasi für das Absolute und sein Umgang mit den anderen Menschen erfolgt von einem Thron herab.
Wenn ich mit einem Wesen Mitgefühl empfinde, ist damit ein Minimum an Identifikation – Fühlen einer Wesenseinheit – verbunden. Einem Menschen, der das Gefühl der (Existenz-) Angst kennt, wird die Identifikation mit einem anderen Menschen leichter fallen, weil das Empfinden von Angst dessen Wahrnehmung enthält: Das Empfinden von Angst relativiert die eigene Absolutheit, das heisst, durch das Empfinden von Angst ist es nicht mehr möglich den anderen als blosses Objekt der eigenen Willkür zu betrachten.
Das Fehlen von Mitgefühl zeugt von einer Aufspaltung des Seins: in Aussenstehende und mich selber (bzw. meine Gruppierung); mit den Aussenstehenden wird keine Wesenseinheit gemacht. Insofern mit einem Wesen Mitgefühl empfunden wird – und es handelt sich nicht um Herablassung – wird es als gleichwertig wahrgenommen. Von daher wird verständlich, dass Arroganz und Hochmut dem Empfinden von Mitgefühl nicht förderlich sind.
Nehmen wir an, jemand befinde sich in einer Situation, in der das adäquate Gefühl Angst wäre – aber er kann keine Angst empfinden. Das heisst, er hat kein Gespür für die Situation. Es besteht keine Kommunikation zwischen ihm und der Aussenwelt. Kann ein solcher Mensch ein Gespür dafür haben, was im andern vor sich geht; das heisst Empathie empfinden?! Jemand, der das Gefühl Angst nicht kennt, kann sie auch im andern nicht (nach-) empfinden.